31. ALTE TABAKFABRIK HALLEIN

WIE DIE „TSCHICKWEIBER“ DEN NAZIS DAS LEBEN SCHWERMACHTEN
Agnes Primocic war Widerstandskämpferin und Arbeiterin in der Halleiner Tabakfabrik und verhalf drei Häftlingen des KZ Hallein, einem Nebenlager von
Dachau, zur Flucht. Selbst von der Gestapo bedroht, überredete Primocic im April 1945 den SS-Lagerkommandanten des KZ Hallein zur Freilassung von 17 zum Tod verurteilten Häftlingen. Erst 50 Jahre nach Kriegsende dankte das offizielle Österreich der mutigen Frau. Im hohen Alter wurde sie Ehrenbürgerin von Hallein und erhielt das Goldene Verdienstzeichen des Landes Salzburg.
1905 in Hallein geboren, wuchs Agnes Primocic in einer kinderreichen Familie in bitterer Armut auf. Mit 16 wurde sie Arbeiterin in der Halleiner Tabakfabrik. Die als „Tschikweiber“ bekannten Fabriksarbeiterinnen verdienten mehr als Männer in der Halleiner Zellulosefabrik, mussten aber auch mit den zum Teil unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Tabakfabrik fertigwerden. Mit 17 brachte Primocic ihr erstes Kind unehelich zur Welt und musste es „ausstiften“ – zu einem Bauern geben, weil ihre Eltern jede Hilfe verweigerten und die junge Frau ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten musste. Als sozialdemokratische Betriebsrätin klärte sie die anderen „Tschikweiber“ über Sinn und Ziel politischer Arbeit auf, auch Frauenthemen kamen nicht zu kurz: „Ich habe viel gelesen und habe mich vielleicht auch ein bisschen mehr ausgekannt in allem. (…) Es hat Frauen gegeben, die überhaupt von, sagen wir, Geschlechtlichem nichts verstanden haben. Die Frauen sind damals sehr als Menschen zweiter Güte behandelt worden, das muss man wirklich sagen. Ich habe eine gekannt, die hat schon zwei Kinder gehabt und nicht gewusst, was ein Orgasmus ist. Ich habe unterm Dach bei der Mutter ein Büchlein gefunden, das hab ich gelesen, und dann hab ich ihnen davon erzählt. Wie das für die Frauen interessant war!“

Die Ausschaltung des österreichischen Parlaments und der Beginn des Austrofaschismus 1933 hatten für Agnes Primocic unmittelbare Folgen. Aus Enttäuschung über die Haltung der Sozialdemokraten nach dem sogenannten Februaraufstand 1934 trat sie der Kommunistischen Partei bei. Sie wurde wegen ihrer politischen Tätigkeit mehrmals verhaftet und verbrachte insgesamt ein Jahr in österreichischen Gefängnissen. Sie durfte auch nicht mehr in der Tabakfabrik arbeiten. Noch vor dem Anschluss 1938 las sie Hitlers Buch „Mein Kampf“ und wusste, dass Nationalsozialismus Krieg, Verfolgung und Vernichtung bedeutete. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich und der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhielt Primocic zwar wieder ihre Arbeit in der Tabakfabrik, doch sie geriet bald ins Visier der Gestapo.

1941 wurde sie wegen ihrer Sammeltätigkeit für die Rote Hilfe, eine Organisation zur Unterstützung politisch verfolgter und notleidender Familien, von der Gestapo verhaftet und eingesperrt. Ihre zwei kleinen Kinder blieben unversorgt zurück, bis sich eine Nachbarin um die beiden kümmerte. Nach der Rückkehr aus der Haft musste Agnes Primocic ihrem Mann versprechen, ihre politische Arbeit aufzugeben und ihre Familie nicht mehr zu gefährden. Doch sie sah so viel Unrecht und konnte nicht untätig bleiben. 1943 und 1944 verhalf sie drei Häftlingen des KZ Hallein, einem Außenlager von Dachau auf dem Gelände des heutigen Deisl-Steinbruchs, zur Flucht. Der Ischler Sepp Plieseis, einer der Geflüchteten, baute im Salzkammergut eine bedeutende Widerstandsgruppe auf. Mit ihrer Freundin Mali Ziegleder brachte Primocic Kleidung und Lebensmittel für die KZ-Häftlinge nach Schloss Fischhorn, ebenfalls einem Nebenlager von Dachau. Kurz vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes riskierte sie noch einmal ihr Leben, als sie den SS-Lagerkommandanten des KZ Hallein überredete, 17 zum Tod verurteilte Häftlinge am Leben zu lassen, unter ihnen der spätere Polizeichef von Hallein, „Schani“ Staffenberger.

Nach 1945 kümmerte sich Primocic als Gemeinderätin um die Betreuung der Kinder in den Kindergärten und die Versorgung der Bevölkerung. Seit den 1980er-Jahren besuchte sie als Zeitzeugin Schulen und erzählte ihre Geschichte. Die offizielle Ehrung kam spät, aber doch: 1999 ernannte sie der Stadtrat von Hallein zur Ehrenbürgerin, 2005 folgte das Goldene Verdienstzeichen des Landes Salzburg. 2007 starb Agnes Primocic im Alter von 102 Jahren in Hallein. In der ehemaligen Tabakfabrik befindet sich heute ein Kulturzentrum, in dem 2001 das von der Theatergruppe bodi end sole inszenierte Stück „Tschikweiber“ aufgeführt wurde. (sr)

LITERATURTIPPS:

Michaela Zehentner (Hg.): Nicht stillhalten, wenn Unrecht geschieht. Die Lebenserinnerungen von Agnes Primocic. Salzburg 2004.

Ingrid Bauer: „Tschikweiber haum´s uns g´nennt …“. Frauenleben und Frauenarbeit an der ‚Peripherie‘. Wien 1988.


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